VORFAHRT
TATBESTAND:BUßGELDPUNKTEFAHRVERBOT
An eine Vorfahrtsstraße zu schnell herangefahren10
Die Regelung zur Vorfahrt "rechts-vor-links" nicht beachtet mit Behinderung25
Stoppschild nicht beachtet mit Gefährdung701
An beschilderten Engstellen Entgegenkommenden Vorrang nicht gewährt5
An der Haltelinie nicht gehalten10
Zu schnell an einen Zebrastreifen herangefahren, obwohl ein Fußgänger diesen nutzen wollte801

Ratgeber: Vorfahrt

Das sagt die StVO:

§ 8 StVO – Vorfahrt

(1) An Kreuzungen und Einmündungen hat die Vorfahrt, wer von rechts kommt. Das gilt nicht,

1. wenn die Vorfahrt durch Verkehrszeichen besonders geregelt ist (Zeichen 205, 206, 301, 306) oder
2. für Fahrzeuge, die aus einem Feld- oder Waldweg auf eine andere Straße kommen.

(1a) Ist an der Einmündung in einen Kreisverkehr Zeichen 215 (Kreisverkehr) unter dem Zeichen 205 (Vorfahrt gewähren) angeordnet, hat der Verkehr auf der Kreisfahrbahn Vorfahrt. Bei der Einfahrt in einen solchen Kreisverkehr ist die Benutzung des Fahrtrichtungsanzeigers unzulässig.

(2) Wer die Vorfahrt zu beachten hat, muss rechtzeitig durch sein Fahrverhalten, insbesondere durch mäßige Geschwindigkeit, erkennen lassen, dass gewartet wird. Es darf nur weitergefahren werden, wenn übersehen werden kann, dass wer die Vorfahrt hat, weder gefährdet noch wesentlich behindert wird. Kann das nicht übersehen werden, weil die Straßenstelle unübersichtlich ist, so darf sich vorsichtig in die Kreuzung oder Einmündung hineingetastet werden, bis die Übersicht gegeben ist. Wer die Vorfahrt hat, darf auch beim Abbiegen in die andere Straße nicht wesentlich durch den Wartepflichtigen behindert werden.

Anwendungsbereich der Vorfahrtregelung

Die Vorfahrt regelt den Vorrang von Fahrzeugen, die an einer Straßenkreuzung oder Straßeneinmündung, also auf verschiedenenStraßen, aufeinander zukommen. Führen Fußgänger Fahrzeuge mit sich, so ist einmal zu beachten, dass nach § 24 Abs. 1 Schiebe- und Greifreifenrollstühle, Rodelschlitten, Kinderwagen, Roller, Kinderfahrräder und ähnliche Fortbewegungsmittel im Sinne dieser Verordnung nicht als Fahrzeuge gelten; diese Fußgänger sind also den Fußgängern gleichgestellt, die überhaupt keine Fahrzeuge mitführen (OLG Karlsruhe NZV 1991, 355 [OLG Karlsruhe 03.08.1990 – 10 U 264/89]). Aber auch die Fußgänger, die größere Fahrzeuge mitführen, sind nach § 8 Abs. 2 nicht dem Fahr-, sondern dem Fußgängerverkehr zugeordnet. Wird z. B. ein Radfahrer, der aus einer Nebenstraße gekommen ist, auf der bevorrechtigten Straße von einem Kfz angefahren, so kann ihm eine Verletzung der Vorfahrt nicht zur Last gelegt werden, wenn er das Rad beim Überqueren der Hauptstraße geführt hat und es erst danach am rechten Straßenrand wieder besteigen wollte (BGH VersR 1970, 328 [BGH 20.01.1970 – VI ZR 136/68]). Soweit Fahrzeuge aus anderen Straßen abbiegen und dabei mit Fußgängern zusammentreffen, die mit Fahrzeugen an der Hand die Straße überqueren, gilt § 9 Abs. 3 Satz. 3 (Rücksichtnahme der Fahrzeugführer, wenn nötig, warten).

Ausnahmsweise gelten die Regeln über den Fahrverkehr auch für zu Fuß marschierende Verbände (§ 27 StVO), für das Führen von Pferden sowie für das Treiben und Führen von Vieh (§ 28 Abs. 2 StVO).

Vorrang der Fußgänger auf Fußgängerüberwegen: § 26 StVO.

Kreuzung

Eine Kreuzung ist dann gegeben, wenn sich zwei oder mehr Straßen schneiden, also jede über den Schnittpunkt hinaus ihre Fortsetzung hat. Der Vorfahrtbereich wird von den Fluchtlinien der Fahrbahn beider Straßen einschließlich der Radwege gebildet. Eine Kreuzung liegt auch dann vor, wenn eine der Straßen nach der Kreuzung etwas seitlich versetzt ist. Unter den Rechtsbegriff der Kreuzung fällt auch das Kreuzen einer Straße mit einer anderen, die durch einen Mittelstreifen getrennte Fahrbahnen hat; es handelt sich hierbei nicht etwa um mehrere Kreuzungen.

Einmündung

Jedes Zusammentreffen zweier oder mehrerer Fahrstraßen mit nur einer Fortsetzung ist eine Straßeneinmündung; dabei ist es gleichgültig, ob eine Straße auf eine andere trifft, also eine Seitenstraße auf eine Durchgangsstraße, oder ob sich eine Straße derart teilt, dass jede als Fortsetzung der bisherigen angesehen werden kann. Die Länge und die Bedeutung einer abzweigenden Straße BGHsind unerheblich für den Begriff der Straßeneinmündungen. Das von der Verlängerung der Fahrbahnkanten gebildete Einmündungsviereck ist der Raum, auf den sich das Recht der Vorfahrt erstreckt. Bei trichterförmigen Erweiterungen reicht das bevorrechtigte Einmündungsstück bis zu den Endpunkten der Erweiterung (BGH DAR 1965, 249).

Treffen ein gemeinsamer Geh- und Radweg und eine ohne Beschränkung dem Fahrzeug gewidmete Straße aufeinander, handelt es sich um eine Kreuzung i. S. d. § 8 Abs. 1 StVO, an der »rechts vor links« gilt (OLG KarlsruheUrt. v. 30.05.2012 – 1 U 193/11 –, VersR 2012, 1270).

Keine Einmündung, sondern »anderer Straßenteil« sind Flächen, die zwar dem öffentlichen Verkehr, aber nicht dem durchgehenden fließenden Verkehr dienen, also etwa Gehwege, Seitenstraßen, Parkplätze und Tankstellen einschließlich ihrer Zu- und Abfahrten (OLG Naumburg SVR 2007, 298).

Ob auf einem von rechts kommenden Fahrweg die Vorfahrtregel »rechts vor links« (§ 8) oder die Sorgfaltsregel »Ausschluss der Gefährdung« (§ 10) gilt, richtet sich danach, ob er erkennbar dem fließenden Verkehr oder nur einer Grundstücksausfahrt dient (BayObLGVRS 75, 364).

Bestehen Zweifel an der Vorfahrtsberechtigung – beispielsweise wegen der baulichen Gestaltung der Straße – gilt das allgemeine Rücksichtnahmegebot nach § 1 (LG Saarbrücken, Urt. v. 08.04.2011 – 13 S 17/11 –, SP 2011, 392).

Eine von einer durchgehenden Straße abzweigende gemeinsame Zufahrt zu mehreren neben der Straße gelegenen Häusern ist dann, wenn sie nach den äußerlich erkennbaren Umständen lediglich der Anschließung der Häuser an den öffentlichen Verkehr dient, trotz ihrer Zugehörigkeit zum öffentlichen Verkehrsraum im Verhältnis zu der durchgehenden Straße keine selbständige Straße, an deren Einmündung die Vorschriften über die Vorfahrt Anwendung finden, sondern ein anderer Straßenteil, bei dessen Verlassen das Vorrecht des fließenden Verkehrs auf der durchgehenden Straße zu beachten ist (Ergänzung zu BayObLG VRS 64, 376; BayObLG VRS 65, 223).

Nach Abschnitt II 2 der VwV wird die Rechtslage durch Vorfahrtbeschilderung geklärt.

Kreuzung von Schiene und Straße kein Vorfahrtfall

Ein Vorfahrtfall i. S. d. § 8 ist nicht möglich an der Einmündung eines besonderen Bahnkörpers, der nicht innerhalb des Verkehrsraums einer öffentlichen Straße verlegt ist, in eine öffentliche Straße.

Wo ein Vorfahrtfall i. S. d. § 8 nicht eintreten kann, ist für die Aufstellung eines Haltegebotsschildes (Zeichen 206) kein Raum (OLG Hamburg VerkMitt. 1965, 47; OLG Hamm VerkMitt. 67 Nr. 11).

Die Vorfahrtsregeln gelten weiterhin nicht beim Einfahren in eine nur über abgesenkten Bordstein oder Gehweg erreichbare Straße, da es hier an einer Einmündung fehlt (OLG Düsseldorf NZV 1988, 231).

Radwege gehören zum Kreuzungs- und Einmündungsstück

Die Vorfahrt schließt den neben der Fahrbahn liegenden Radweg auch dann ein, wenn das Vorfahrtzeichen zwischen Fahrbahn und Radweg angebracht ist. Sie gilt auch für einen Radfahrer, der verbotswidrig den linksläufigen Radweg benutzt (OLG Hamm, DAR 1996, 321 und NZV 1997, 123; OLG Düsseldorf, DAR 2001, 78, AG Bernau, Urt. v. 23.11.2010 – 10 C 398/09, SP 2011, 247; a. A. OLG Bremen DAR 1997, 272). Aber: Kollidiert ein auf dem Gehweg fahrender erwachsener Radfahrer mit einem aus einer Hofeinfahrt herauskommenden Pkw, so haftet der Radfahrer zu 100 %, wenn den Pkw-Fahrer am Verkehrsunfall kein Verschulden trifft. Die Betriebsgefahr des Pkws tritt in einem solchen Fall vollständig hinter das grobe Verschulden des Radfahrers zurück (AG HannoverUrt. v. 29.03.2011 – 562 C 13120/10 –, SVR 2011, 384).

Wann liegt ein Vorfahrtfall vor?

Ein Vorfahrtfall liegt vor, wenn bei unverminderter beiderseitiger Geschwindigkeit die Gefahr eines Zusammenstoßes bestehen würde oder nicht ausgeschlossen werden kann.

Dabei hat der Wartepflichtige seine eigene Geschwindigkeit sowie die des anderen Fahrzeugs und die Entfernungen der beiden Fahrzeuge von dem Schnittpunkt ihrer Fahrbahn zu berücksichtigen. Auch wenn der Zusammenstoß nach Überqueren der Vorfahrtstraße durch den Wartepflichtigen im Einmündungsbereich des jenseitigen Zweiges des untergeordneten Straßenzuges erfolgt ist, kann die Vorfahrtdadurch verletzt sein, dass die freie Fahrt des Vorfahrtberechtigten beeinträchtigt worden ist, solange dieser sich auf der bevorrechtigten Straße befand .

Biegt der Wartepflichtige in die bevorrechtigte Straße ein, gelten die Vorfahrtregeln so lange, bis er sich in den Verkehr der bevorrechtigten Straße eingeordnet hat. Kommt dem Wartepflichtigen beim Einbiegen in die andere Straße ein Vorfahrtberechtigter entgegen, darf er nur weiterfahren, wenn der Vorfahrtberechtigte sich auf der für ihn rechten Fahrbahnreihe befindet oder noch rechtzeitig (z. B. nach einem Überholen) wieder nach dort hinüberwechseln kann.

Der Wartepflichtige muss zügig abbiegen, damit er den vorher etwa noch nicht sichtbaren Verkehr beeinträchtigt (OLG Hamm NZV 1994, 277).

Die Wartepflicht besteht, solange beim Bevorrechtigten die begründete Befürchtung eines Zusammenstoßes erweckt werden kann (OLG Köln VRS 65, 68), auch wenn der Kollisionsort außerhalb des Kreuzungs- oder Einmündungsbereichs liegen würde (OLG Karlsruhe DAR 1989, 422).

Die Wartepflicht besteht nur gegenüber sichtbar Berechtigten, also nicht, soweit diese aufgrund des Straßenverlaufs (Kurve) nicht erkennbar sind. Der Wartepflichtige ist an einer Einmündung deshalb nicht gehalten, den Einbiegevorgang in einer den Anforderungen des § 8 Abs. 2 S. 3 StVO entsprechenden Weise durch zentimeterweises Vorfahren mit der Möglichkeit zum sofortigen Anhalten zu vollziehen, wenn er darauf vertrauen darf, ohne Gefährdung des noch nicht in sein Sichtfeld geratenen bevorrechtigten Verkehrs in die Vorfahrtstraße einzubiegen. Der gegen den Wartepflichtigen grundsätzlich streitende Anscheinsbeweis ist daher entkräftet, wenn der bevorrechtigte Unfallgegner unmittelbar vor dem Unfall unter Verstoß gegen § 5 Abs. 3 Nr. 1 StVO ein anderes Fahrzeug überholte, dessen Fahrer keine Mühe hatte, rechtzeitig vor Erreichen der im Kreuzungsbereich liegenden Unfallstelle anzuhalten (OLG Saarbrücken,Urt. v. 12.10.2010 – 4 U 110/10 –, SP 2011, 100).

Die Wartepflicht begründet bei einem Zusammenstoß einen Anscheinsbeweis, der nicht schon durch verkehrswidriges Verhalten des Vorfahrtberechtigten entkräftet wird (KG DAR 1984, 85; OLG München NZV 1989, 438 [OLG München 21.04.1989 – 10 U 3383/88];OLG Köln NZV 1989, 437).

Der Kraftfahrer, der nach rechts in eine Vorfahrtstraße abbiegt und dabei einen Radweg kreuzt, muss damit rechnen, dass der Radweg vorschriftswidrig in falscher Richtung befahren wird (OLG Hamm NZV 1997, 123). Radfahrer, die entgegen § 2 Abs. 4 S. 2 StVO einen neben der Fahrbahn einer Hauptstraße verlaufenden Radweg befahren, haben gegenüber aus untergeordneten Nebenstraßen von rechts einbiegenden Verkehrsteilnehmern keine Vorfahrt (OLG Bremen DAR 1997, 275). Im Falle einer Kollision gilt Schadensteilung.

Auf welchen Straßenraum erstreckt sich die Vorfahrtregelung

Auf Vorfahrtstraßen (§ 8 Abs. 1 S. 2 StVO) erstreckt sich die Vorfahrt auf die ganze Breite der Straße. Der Wartepflichtige darf sich daher nicht ohne weiteres darauf verlassen, dass die Vorfahrtberechtigten auf der von rechts kommenden Straße sich auf deren rechten Seite halten. Beim Einbiegen nach rechts muss er die Möglichkeit in Betracht ziehen, dass ihm dort ein Fahrzeug auf der linken Fahrbahnhälfte entgegenkommt und den Weg versperrt (BGH VRS 6, 11). Wer aus untergeordneter Straße nach rechts in eine Vorfahrtstraße einbiegt, muss auch nach Anfahrbeginn eine für ihn von rechts kommende Kolonne weiter darauf beobachten, ob eines der Fahrzeuge zum Überholen ausschert (OLG Hamm DAR 2001, 519).

Eine Zufahrt über abgeflachte Bordsteine ist nach § 10 StVO keine einmündende Straße i. S. d. § 8. Fehlt der abgesenkte Bordstein, gilt § 8 StVO (OLG Karlsruhe NZV 1989, 117).

Das Vorfahrtrecht, das sich auf die ganze Breite der Straße erstreckt, schließt die neben der Fahrbahn liegenden Radwege ein (OLG Karlsruhe VRS 53, 301). Der Wartepflichtige muss sich entsprechend verhalten (vgl. BGH ZV 1991, 187). Durch Missachtung des Rechtsfahrgebots erhöht jedoch der Vorfahrtberechtigte die für die Gefährdungshaftung wesentliche Betriebsgefahr (OLG Köln NZV 1991, 429 [OLG Köln 19.06.1991 – 2 U 1/91]).

Wer als Vorfahrtberechtigter abbiegt, muss § 9 Abs. 3 StVO (Vorrang entgegenkommender Fahrzeuge) beachten.

Wesentlich ist bei der Vorfahrtregelung, woher ein Fahrzeug kommt, nicht wohin es fährt. Der Abbiegende Vorfahrtberechtigte hat nach § 8 Abs. 2 S. 4 StVO Anspruch darauf, dass ihm die rechte Fahrbahnhälfte der Straße, in die er einbiegen will, freigehalten wird. Er ist noch bevorrechtigt, wenn er in der Kreuzungsfläche in einem engen Linksbogen fährt, aber nicht mehr, wenn er durch das Schneiden der Kurve auf die linke Fahrbahnseite der anderen Straße gerät. Wenn aber der Vorfahrtberechtigte in die untergeordnete Straße nur unter Inanspruchnahme der linken Fahrbahnhälfte einbiegen kann, z. B. weil diese Straße sehr schmal ist, so muss der Wartepflichtige zurückbleiben oder, falls er schon bis an die Schnittfläche der beiden Fahrbahnen herangefahren ist, zurücksetzen.

Der Vorfahrtberechtigte behält seinen Vorrang auch noch beim Einbiegen in eine andere Straße, bis er auf dieser mit seinem Fahrzeug ganz in der neuen Richtung ist. Diese Erstreckung des Vorfahrtrechts ergibt sich notwendig daraus, dass es anderenfalls nicht sinnvoll ausgeübt werden könnte (vgl. auch: KG, DAR 1978, 20).

Erst wenn der Vorfahrtberechtigte die bevorrechtigte Straße vollständig verlassen hat, scheiden bei etwaigen Beeinträchtigungen dieses Fahrers durch andere Fahrzeugführer Zuwiderhandlungen gegen die Vorfahrtsvorschriften aus.

Vorfahrt und Fahrweise

Der Vorfahrtberechtigte fährt rückwärts

Die Vorfahrtberechtigung des von rechts oder auf der als vorfahrtberechtigt gekennzeichneten Straße kommenden Verkehrsteilnehmers wird nicht dadurch beeinträchtigt, dass er rückwärts fährt (OLG Düsseldorf, DAR 1984, 123).

Wer als Vorfahrtberechtigter rückwärts in eine Kreuzung oder aus einer einmündenden Straße in eine andere einfährt, muss die besonderen Nachteile, die daraus für einen Wartepflichtigen gegenüber der normalen Verkehrslage (Vorwärtsfahrt des Vorfahrtberechtigten) entstehen, durch zusätzliche Vorsichtsmaßnahmen, insbesondere durch Ermäßigung seiner Geschwindigkeit, ausgleichen. Eine allgemeine Pflicht, eine andere Person zu Hilfe zu ziehen, besteht nicht.

Die Vorfahrt im Verkehr auf z. T. gesperrten Straßen

Die Vorfahrtregeln gelten auch, wenn sich ein Verkehrsteilnehmer auf einer Straße bewegt, deren Benutzung ihm verboten ist, nicht jedoch für den Radfahrer, der verbotenerweise den Bürgersteig der bevorrechtigten Straße befährt (OLG Hamm VersR 1987, 1246). Für Radfahrer, die verbotenerweise entgegen der Fahrtrichtung fahren gilt folgendes:

1.

AG Halle-Saalkreis, Urteil vom 12.01.2007 – 91 C 2990/06 –, SP 2007, 207
Einen Radfahrer, der den Radweg entgegen der Fahrtrichtung befährt und eine Straße auf dem Fußgängerüberweg überquert, trifft ein Mitverschulden bei einer Kollision mit einem Pkw in Höhe von 50%. Der Pkw-Halter haftet aus der Betriebsgefahr mit 50%.

2.

LG Stralsund, Urteil vom 10.05.2006 – 6 O 560/05 –, SP 2007, 246
Befährt ein Radfahrer entgegen der Fahrtrichtung den Gehweg und kollidiert mit einem abbiegenden Pkw-Fahrer, dessen Sicht nach rechts durch Büsche eingeschränkt ist, haftet der Radfahrer bei einer Kollision zu 100%.

3.

LG ErfurtUrteil vom 14.03.2007 – 8 O 1790/06 –, SP 2007, 347
Befährt ein Radfahrer verbotswidrig den Gehweg und kollidiert mit einem Pkw, der nach links in eine Zufahrt abbiegt, haftet der Radfahrer zu 100%.

4.

AG KleveUrteil vom 30.05.2006 – 30 C 253/04 –, SP 2006, 413
Kommt es zu einer Kollision zwischen einem Radfahrer, der verkehrswidrig den Gehweg befährt, und einem wartepflichtigen Pkw-Fahrer, haftet der Radfahrer zu 100%.

5.

LG DessauUrteil vom 19.08.2005 – 1 S 79/05 –, SP 2006, 201
Befährt ein Radfahrer den Gehweg entgegen der Fahrtrichtung und kollidiert mit einem Grundstücksausfahrer, haftet der Radfahrer zu 100%.

6.

AG Frankfurt/Oder, Urteil vom 03.06.2005 – 2.2 C 276/05 –, SP 2006, 344
Kommt es zu einer Kollision zwischen einem wartepflichtigen Pkw und einem vorfahrtberechtigten Radfahrer, der den Radweg entgegen der Fahrtrichtung befährt, haftet der Pkw-Fahrer zu 2/3.

7.

LG Passau, Urteil vom 30.09.2005 – 4 O 286/05 –, SP 2006, 127
Kommt es zu einer Kollision zwischen einem Radfahrer, der die Vorfahrt missachtet und nicht die Radfahrerunterführung benutzt, und einem Pkw, so haftet der Radfahrer zu 100%. Die Betriebsgefahr des Pkws tritt vollständig zurück.

8.

LG Gießen, Urteil vom 23.02.2006 – 3 O 410/05 –, SP 2006, 239
Kommt es zu einer Kollision zwischen einem Mountainbikefahrer, der ohne Beleuchtung bei Dunkelheit fährt, mit einem linksabbiegenden Pkw, so haftet der Radfahrer zu 2/3.

Vorfahrtrecht und Anhalten

Das Vorfahrtrecht entfällt nicht dadurch, dass der Fahrer vor der Einfahrt in die Kreuzung oder Einmündung vorübergehend anhält, um die Verkehrslage zu prüfenBGH. Das Vorfahrtrecht bleibt auch bestehen, wenn nach Lage der Umstände ersichtlich ist, dass der Fahrer nach dem Durchfahren der Kreuzung oder Einmündung anhalten wird. Zur Vorfahrt an einer Trichter-Einmündung: OLG Frankfurt, NZV 1990, 472.

Dagegen entfällt das Vorfahrtsrecht, wenn der Verkehrsteilnehmer verbotswidrig eine Straße in falscher Richtung (Bsp. Einbahnstraße) befährt, weil insofern das Recht fehlt, die Straße in diese Richtung zu befahren (OLG Frankfurt, VersR 1982, 554).

Die Vorfahrt ist schon dann verletzt, wenn der Berechtigte sich auf ein von weitem sichtbares, langsam einbiegendes Fahrzeug einstellen muss (OLG Köln NZV 1991, 429 [OLG Köln 19.06.1991 – 2 U 1/91]).

Ein Vorfahrtberechtigter ist jedoch ohne besondere Anhaltspunkte dafür, dass sein Vorrecht missachtet werden könnte, nicht verpflichtet, seine Geschwindigkeit zu reduzieren, wenn ein Wartepflichtiger sich einer Kreuzung oder Einmündung nähert oder dort hält. Er darf darauf vertrauen, dass sein Vorrecht beachtet wird (OLG Köln VRS 90, 343).

Verzicht auf die Vorfahrt

Der Kraftfahrer, der aus einem Nebenweg in eine Durchgangsstraße einbiegt, darf seine Vorfahrt nur mit besonderer Vorsicht nutzen, u. U. muss er sich in die Durchgangsstraße so vorsichtig hineintasten wie ein Wartepflichtiger (OLG Düsseldorf VRS 73, 299; BayObLGVerkMitt. 1989, 50 = VRS 76, 310).

Die Annahme des Wartepflichtigen, der vorfahrtberechtigte Fahrer werde auf die Vorfahrt verzichten, rechtfertigt sich nur, wenn der Verzicht offensichtlich ist. Einen Verzicht auf die Vorfahrt darf der Wartepflichtige nur annehmen, wenn der Vorfahrtberechtigte dies unmissverständlich anzeigt (AG Köln, Urt. v. 01.07.2010 – 262 C 156/09 –, SP 2011, 107). Die Betätigung der Lichtanlage darf nur bei deutlichem Anhalten als solcher Verzicht verstanden werden (OLG Koblenz, Urt. v. 3.6.1991 – 12 U 80/96 –, NZV 1991, 428). Wer als Vorfahrtberechtigter einem Wartepflichtigen gegenüber auf die Vorfahrt verzichtet, ist allerdings gegenüber nachfolgenden Wartepflichtigen zu erhöhter Vorsicht verpflichtet (OLG Köln, Urt. v. 19.5.1993 – 13 U 21/93 –, NZV 1994, 110 Ls).

Die Annahme des Wartepflichtigen, der vorfahrtberechtigte Fahrer werde auf die Vorfahrt verzichten, rechtfertigt sich nur, wenn der Verzicht offensichtlich ist. Der aus einer Stoppstraße in eine bevorrechtigte Straße einfahrende Kraftfahrer kann sich nicht darauf verlassen, eine auf der bevorrechtigten Straße fahrende Straßenahn werde an einer Haltestelle vor der Einmündung anhalten, wenn das Haltenwollen nicht deutlich erkennbar wird.

Die Pflicht, einem der abknickenden Vorfahrtsstraße (Zeichen 306) folgenden Linksabbieger die Vorfahrt zu gewähren, wird nicht aufgehoben, wenn der Linksabbieger gegen seine Pflicht, den Fahrtrichtungswechsel rechtzeitig anzuzeigen, verstößt. Ein Verstoß gegen diese Pflicht führt allenfalls zu einer Mithaftung des Abbiegenden bei weiterhin bestehen bleibender Vorfahrtsberechtigung (AG Pasewalk, Urt. v. 26.11.2009 – 3 C 122/08, SP 2010, 214).

Der Vorrang des Kreuzungsräumers bzw. Nachzüglers leitet sich (nur) aus § 11 Abs. 3 StVO ab, weil für den Vorfahrtberechtigten im Hinblick auf den Kreuzungsräumer eine besondere Verkehrslage erkennbar sein muss und der Kreuzungsräumer sich über den Vorfahrtverzicht des Berechtigten mit diesem verständigen muss (KGBeschl. v. 12.05.2011 – 22 U 40/11 –, VersR 2012, 1139).

Der Verzicht auf die Vorfahrt muss eindeutig sein. Die Betätigung der Lichtanlage darf nur bei deutlichem Anhalten als solcher Verzicht verstanden werden (OLG Koblenz NZV 1991, 428).

Wer als Vorfahrtberechtigter einem Wartepflichtigen gegenüber auf die Vorfahrt verzichtet, ist gegenüber nachfolgenden Wartepflichtigen zu erhöhter Vorsicht verpflichtet (OLG Köln NZV 1994, 110).

Vorfahrtlage und Fahren in einer Kolonne

Wer eine Fahrzeugkolonne überholt, muss nicht zu jeder Zeit mit einem Querverkehr rechnen und dementsprechend nicht anhaltebereit vorbeifahren. Wer als Wartepflichtiger durch eine Lücke einer auf der Vorfahrtstraße befindlichen Fahrzeugkolonne in diese einfährt und dann mit einem die Kolonne überholenden Fahrzeug kollidiert, haftet zu 100 % (AG Düsseldorf SP 2006, 273).

Einbiegen entgegenkommender Fahrzeuge in die gleiche Querstraße

Wer links abbiegen will, muss entgegenkommende Fahrzeuge, die ihrerseits nach rechts abbiegen wollen, durchfahren lassen (§ 9 Abs. 4).

Rechtsstellung des Vorfahrtberechtigten

Vertrauensgrundsatz bei der Geschwindigkeitsmessung auf der Vorfahrtstraße

Der Vorfahrtberechtigte darf nach den §§ 1 und 3 Abs. 1 StVO nicht mit einer Geschwindigkeit fahren, die die Einhaltung seiner Verkehrspflichten unmöglich macht. Die Geschwindigkeit muss der Eigenart des Fahrzeugs, der Fahrsicherheit des Fahrers, den besonderen örtlichen Verhältnissen und der jeweiligen Verkehrslage angepasst sein. Doch darf der Vorfahrtberechtigte grundsätzlich darauf vertrauen, dass sein Vorfahrtrecht beachtet wird. Die bloße Möglichkeit, dass ein nicht sichtbarer Verkehrsteilnehmer das Vorfahrtrecht missachten werde, braucht er bei seiner Fahrweise nicht in Rechnung zu stellen. Er braucht daher die Geschwindigkeit nicht so einzurichten, dass er bei Einmündungen von Straßen, die wegen Bebauung nicht einsehbar sind, für den Fall der Verletzung des Vorfahrtrechts anhalten kann.

Der vorfahrtberechtigte Fahrer, der die zulässige Geschwindigkeit erheblich überschreitet oder auf ein verkehrswidrig einbiegendes Fahrzeug erheblich zu spät reagiert, muss einen Teil des Schadens tragen; allerdings ist der Haftungsanteil des Wartepflichtigen größer (OLG Köln NZV 1992, 116). Im Ergebnis ist immer auf den Einzellfall abzustellen. Generelle Aussagen zur Haftungsverteilung lassen sich nicht treffen. Fakt ist lediglich, dass der Wartepflichtige sich vor einem Abbiegen auf die Vorfahrtsstraße über die Fahrgeschwindigkeit des Vorfahrtberechtigten vergewissern muss, Bsp.: Überschreitet der Vorfahrtsberechtigte die zulässige Höchstgeschwindigkeit um ca. 25–35 km/h, ist von einer Mithaftung in Höhe von 1/3 auszugehen (OLG KoblenzUrt. v. 18.07.2011 – 12 U 189/10 –, SP 2012, 64).

Zur Haftungsverteilung siehe: BGHUrt. v. 11.01.2005 – VI ZR 352/03 –, NJW 2005, 1351 [BGH 11.01.2005 – VI ZR 352/03] = DAR 2005, 260, BGHUrt. v. 26.04.2005 – VI ZR 228/03 –, NJW 2005, 1940 [BGH 26.04.2005 – VI ZR 228/03] = DAR 2005, 447.

Wer kurz vor der Stelle, an der er mit kreuzendem Verkehr zusammentrifft, in die ihm Vorfahrt gewährende Straße einbiegen will, darf, solange er nicht in die Straße eingebogen ist, nicht darauf vertrauen, dass ein Verkehrsteilnehmer, dem die Vorfahrtstraße frei erscheint, sein Herankommen beachten und ihm die Vorfahrt überlassen werde. Ob ein solches Vertrauen gerechtfertigt ist, sobald er die Vorfahrt gewährende Straße benutzt, hängt von der Verkehrslage ab.

Beim Überqueren einer Straße kann der Fahrer gegenüber dem von links kommenden Verkehr vorfahrtberechtigt, gegenüber dem von rechts kommenden Verkehr wartepflichtig sein. Er darf die Straße nur überqueren, wenn er sie nach rechts weit genug einsehen kann (BGHNJW 1985, 2757 = VRS 69, 267 = VersR 1985, 784 = DAR 1985, 288).

Ist der Wartepflichtige sichtbar, gilt der Vertrauensgrundsatz, wenn das Verhaltend es Wartepflichtigen die Gefahr der Missachtung der Vorfahrt nicht erkennen lässt; vgl. OLG Naumburg VerkMitt. 1993, Nr 51: Keine gerechtfertigten Zweifel.

Vertrauensgrundsatz gilt auch bei der Vorfahrtregelung rechts vor links

Auch ein besonders sorgfältiger Kraftfahrer, wie ihn § 17 StVG erwähnt, darf darauf vertrauen, dass von links kommende Wartepflichtige sein Vorfahrtrecht beachten; hält er eine für die sonstigen Verkehrsverhältnisse angemessene Geschwindigkeit ein, braucht ihn die Tatsache, dass die Sicht, in die von links einmündende Straße versperrt ist, nicht zu einer Herabsetzung seiner Geschwindigkeit und zu Warnzeichen zu veranlassen. Stößt ein Motorradfahrer, der die zulässige Höchstgeschwindigkeit von 50 km/h überschreitet, nach dem Durchfahren einer unübersichtlichen Linkskurve mit einem aus der Gegenrichtung kommenden Pkw zusammen, der nach links in eine Grundstückszufahrt einbiegt, und bleibt nach Einholung eines unfallanalytischen Gutachtens offen, ob die Pkw-Fahrerin ihn bei Abbiegebeginn bereits sehen konnte, so kann ihr Verschulden nicht ohne weiteres nach den Grundsätzen des Anscheinsbeweises festgestellt werden (OLG Hamm, Urt. v. 05.10.2009 – I-6 U 94/09, VersR 2010, 1238 [OLG Hamm 05.10.2009 – 6 U 94/09]).

Der Vorfahrtberechtigte muss bei Benutzung der linken Fahrbahnseite einen Sicherheitsabstand zur einmündenden Seitenstraße einhalten

Dem Vorfahrtberechtigten steht Vorfahrt grundsätzlich auf der gesamten Straßenbreite zu; der Wartepflichtige muss sich entsprechend verhalten (BGH NZV 1991, 187 [BGH 13.11.1990 – VI ZR 15/90]). Biegt der Vorfahrtberechtigte nach links ab, muss er in der anderen Straße auf deren rechten Seite weiterfahren. Fährt er auf der linken Seite weiter, kann er sich bei einem dortigen Unfall auf seine Vorfahrtnicht mehr berufen (KG VerkMitt. 1993, Nr. 101). Ist mit verkehrswidrigem Verhalten der Wartepflichtigen zu rechnen, muss der Vorfahrtberechtigte reaktionsbereit sein (OLG Köln NZV 1992, 116).

Treffen ein gemeinsamer Geh- und Radweg und eine ohne Beschränkung dem Fahrzeug gewidmete Straße aufeinander, handelt es sich um eine Kreuzung i. S. d. § 8 Abs. 1 StVO, an der »rechts vor links« gilt. Ein Vorfahrtberechtigter darf hier grundsätzlich auf die Beachtung seiner Vorfahrt vertrauen. Er darf sich dann aber nicht auf die Beachtung seiner Vorfahrt verlassen, wenn konkrete Umstände Anlass zu der Befürchtung geben, ein anderer Verkehrsteilnehmer werde die Vorfahrt verletzen. Solche Umstände können auch in den örtlichen Verhältnissen einer Einmündung liegen, wenn nämlich die vom Vorfahrtberechtigten befahrene Straße in eine Querstraße einmündet, ohne sich jenseits der Einmündung fortzusetzen (sogen. T-Einmündung), und seine Straße für den Wartepflichtigen nicht oder nicht voll einsehbar ist (OLG KarlsruheUrt. v. 30.05.2012 – 1 U 193/11 –, VersR 2012, 1270).

Bei einer Vorfahrtsverletzung an einer Einmündung, an der die Regel »rechts vor links« gilt, haftet der Wartepflichtige i. d. R. allein, wenn eine Pflichtverletzung des Vorfahrtberechtigten nicht vorliegt bzw. nicht nachgewiesen ist. Zugunsten des Vorfahrtberechtigten gilt hier ebenfalls der Vertrauensgrundsatz, d. h. er darf normalerweise darauf vertrauen, dass ein Fahrzeug, das sich von links nähert, rechtzeitig vor der Einmündung anhalten wird. Den Vorfahrtberechtigten trifft kein Vorwurf, wenn er in der Zeit unmittelbar vor der Kollision nicht nach links schaut, weil er seinerseits den Vorrang von Fahrzeugen berücksichtigen muss, die sich evtl. aus der anderen Richtung – aus seiner Sicht von rechts – der Einmündung nähern (OLG KarlsruheUrt. v. 12.01.2012 – 9 U 169/10 –, DAR 2012, 212).

Der Vorfahrtberechtigte darf einen anderen Verkehrsteilnehmer an der Einmündung an der Seitenstraße überholen und deshalb die linke Fahrbahnseite mit benutzen, auch wenn er die Einmündung wegen der Bebauung oder anderen Gründen nicht einsehen kann (BGH, NJW 1985, 2757, [BGH 21.05.1985 – VI ZR 201/83] OLG Hamm, VRS 101, 81). Hierbei hat er aber zugunsten von Wartepflichtigen grundsätzlich einen Sicherheitsabstand von mindestens 0,5 m von der gedachten linken Fahrbahnbegrenzung der Vorfahrtstraße einzuhalten. Er muss damit rechnen, dass Wartepflichtige gezwungen sein können, zur Erlangung freier Sicht ein Stück in die Vorfahrtstraße hineinzufahren. Wenn er einen Abstand von 0,5 m nicht einhalten kann, muss er so fahren, dass er durch Bremsen oder Ausweichen einen Zusammenstoß mit dem Wartepflichtigen, der sich in die bevorrechtigte Straße hineintasten will, vermeidet.

Wann muss der Vorfahrtberechtigte bremsen?

Nähern sich einer Kreuzung oder Einmündung auf beiden Straßen gleichzeitig zwei Fahrzeuge, braucht der Vorfahrtberechtigte nicht mitder Missachtung seines Vorfahrtsrechts zu rechnen, solange der Wartepflichtige sein Fahrzeug noch durch gewöhnliche Bremsung rechtzeitig anhalten oder seine Geschwindigkeit so herabsetzen kann, dass der Vorfahrtberechtigte ungefährdet vor ihm vorüberfahren kann. Erst wenn sich der Wartepflichtige so schnell und so weit genähert hat, dass angenommen werden muss er wolle durchfahren, ist der Vorfahrtberechtigte verpflichtet, zu bremsenBGH. Die Inanspruchnahme der Vorfahrt ist auch dann keine nach § 1 Abs. 2 StVOverbotene Behinderung des Wartepflichtigen, wenn wegen eines zu befürchtenden verkehrswidrigen Verhaltens des letzteren die Vorfahrt nicht hätte in Anspruch genommen werden dürfen (BayObLG VerkMitt. 1966, 91).

Der bei einem Unfall für den Vorfahrtberechtigten sprechende Anscheinsbeweis kann entfallen, wenn der Vorfahrtberechtigte mit unzulässiger Geschwindigkeit fährt (OLG München VRS 93, 260). Bei einer Kollision zwischen einem Linksabbieger und einem entgegenkommenden Fahrzeug kommt es aber auch bei einer geringfügiger Überschreitung der zulässigen Geschwindigkeit durch den Vorfahrtsberechtigten zu einer vollen Haftung des Linksabbiegers. Es spricht ein Anscheinsbeweis für ein Verschulden des Linksabbiegers bei der Kollision mit dem Gegenverkehr (OLG Frankfurt, Urt. v. 03.03.2010 – 7 U 168/08 –, NJW Spezial 2010, 650).

Auf Beständigkeit und Gleichartigkeit der Vorfahrtregelung darf nicht vertraut werden

Kein Straßenbenutzer darf sich darauf verlassen, dass die Verkehrszeichen und Verkehrseinrichtungen unverändert bleiben. Kein Kraftfahrer darf darauf vertrauen, dass er die Vorfahrt auf einer Straße an jeder Kreuzung behält, wenn er sie an einer vorhergehenden Kreuzung gehabt hat; der Kraftfahrer muss sich an jeder Kreuzung oder Einmündung über die dort geltende Vorfahrtregelung vergewissern (BGHVerkMitt. 1970 Nr. 61).

Behördliche Maßnahmen besonderer Art bei Änderung der Vorfahrtregelung

Erfahrungsgemäß kommt es nach Änderung der Vorfahrtregelung auf einer Ausfallstraße häufiger als sonst zu Verkehrsunfällen durch Zusammenstöße. Deshalb müssen i. d. R. die Verkehrsbehörden bei Änderung der Vorfahrtregelung im Stadtverkehr die Kraftfahrer auf der bislang bevorrechtigten Straße durch zusätzliche Maßnahmen auf diese Änderung hinweisen, andernfalls ein Schadenersatzanspruch wegen Amtspflichtverletzung gegeben ist (vgl. BGH VerkMitt. 1970 Nr. 61). Vgl. auch VwV IV zu § 41.

Inhalt der Wartepflicht

Fahrverhalten muss die Absicht, zu warten, erkennen lassen

Wie die Begründung ausführt, besteht das geforderte »Fahrverhalten« vor allem darin, die Geschwindigkeit rechtzeitig zu ermäßigen. Je später sich Vorfahrtberechtigte und Wartepflichtige sehen können, umso geringer muss die Geschwindigkeit des Wartepflichtigen sein.

Der Vorfahrtsberechtigte kann auch bei »rechts vor links« grundsätzlich darauf vertrauen, dass ein Fahrzeug, das von links heranfährt, rechtzeitig anhalten wird (OLG KarlsruheUrt. v. 12.01.2012 – 9 U 169/10 –, NJW spezial 2012, 169). Das völlige Zurücktreten einer Betriebsgefahr hinter einen Vorfahrtsverstoß entspricht ständiger Rechtsprechung. Bei der sogen. halben Vorfahrt gilt nur dann etwas anderes (Mithaftung des Vorfahrtsberechtigten im Bereich von 25 %), wenn der Wartepflichtige z. B. an einer gleichrangigen Kreuzung so schnell heranfährt, dass er seine Wartepflicht gegenüber einem von rechts Kommenden nicht genügen kann (KGUrt. v. 23.07.2009 – 12 U 212/08, NZV 2010, 255).

Fährt jemand an eine Kreuzung gleich geordneter Straßen so schnell heran, dass er seiner Wartepflicht gegenüber einem von rechts kommenden Verkehrsteilnehmer nicht genügen kann, so ist er auch für einen dadurch mit herbeigeführten Zusammenstoß mit einem von links kommenden und ihm gegenüber wartepflichtigen Fahrzeug verantwortlich, sog. halbe Vorfahrt (OLG Hamm, DAR 2002, 508 Mithaftung zu 25 %).

Welche Teile der Straße muss der Wartepflichtige freihalten

Wartepflichtige müssen gegenüber Vorfahrtberechtigten das Kreuzungs- bzw. Einmündungsviereck und die Gegenfahrbahn, in die Bevorrechtigte hineinfahren wollen, freihalten. Gegebenfalls muss er sich in den Straßenraum hineintasten. »Hineintasten« bedeutet zentimeterweises Vorrollen und wiederholtes Anhalten bis zum Übersichtspunkt. Eine Vorfahrtsverletzung liegt somit dann vor, wenn der Wartepflichtige die Schnittlinie der bevorrechtigten Straße überfährt und damit ganz oder teilweise den Fahrstreifen des bevorrechtigten Verkehrsteilnehmers blockiert (KGBeschl. v. 28.01.2010 – 12 U 40/09, NJW spezial 2010, 362). Das Kammergericht hatte mit dieser Entscheidung klargestellt, dass der Wartepflichtige nicht bis zur Sichtlinie »vorrollen« darf, sondern sich ggf. »Stück für Stück« hineintasten muss. Dies beinhaltet, dass er dann auch zwischendurch anhält. Dieses Anhalten ist erforderlich, damit der Vorfahrtberechtigte Raum und Zeit hat, seine Fahrweise auf ein Fahrzeug aus der untergeordneten Straße einzustellen.

Der Wartepflichtige ist an einer Einmündung allerdings nicht gehalten, den Einbiegevorgang durch zentimeterweises Vorfahren mit der Möglichkeit zum sofortigen Anhalten zu vollziehen, wenn er darauf vertrauen darf, ohne Gefährdung des noch nicht in sein Sichtfeld geratenen bevorrechtigten Verkehrs in die Vorfahrtstraße einzubiegen. Der gegen den Wartepflichtigen normalerweise streitende Anscheinsbeweis ist entkräftet, wenn der bevorrechtigte Unfallgegner unmittelbar vor dem Unfall unter Verstoß gegen § 5 Abs. 3 Nr. 1 ein anderes Fahrzeug überholte, dessen Fahrer keine Mühe hatte, rechtzeitig vor Erreichen der im Kreuzungsbereich liegenden Unfallstelle anzuhalten (OLG SaarbrückenUrt. v. 12.10.2010 – 4 U 110/10 –, SP 2011, 100).

Den Wartepflichtigen trifft des Weiteren dann nicht der Vorwurf der Vorfahrtverletzung, wenn der Bevorrechtigte unter Schneiden der Kurve zum Einbiegen nach links auch noch die Fahrbahnseite des Wartepflichtigen in Anspruch nimmt und mit diesem zusammenstößt. Dabei ist gleichgültig, ob der Wartepflichtige auf seiner Fahrbahn scharf rechts oder mehr zur Mitte hin fährt. Der Wartepflichtige muss einbiegenden Fahrzeugen Platz machen, wenn die Straße, in die eingebogen wird, so eng ist oder wenn das abbiegende Fahrzeug so lang oder breit ist, dass zwangsläufig bei verkehrsgerechtem Einbiegen über das Einmündungsviereck hinaus auch die – in Fahrtrichtung des Einbiegens gesehen – linke Fahrbahnseite der anderen Straße in schräg verlaufender Richtung in Anspruch genommen werden muss.

Wartepflicht bedeutet, den bevorrechtigten Verkehr nicht mehr als unvermeidbar zu behindern (OLG Köln Urt. v. 07.07.1995 – 19 U 252/94 –, VRS 90, 343). Der Wartepflichtige darf in die bevorrechtigte Straße erst einbiegen, wenn er deren Verkehrsraum ausreichend übersehen kann. Er darf sich nicht darauf verlassen, dass hinter einem die Sicht verdeckenden Fahrzeug kein Verkehrsteilnehmer zum Überholen ansetzt (BGH Urt. v. 26.09.1995 – VI ZR 151/94 –, VRS 90, 348).

Der Anscheinsbeweis gegen die Wartepflichtigen bei einem Zusammenstoß mit einem Bevorrechtigten im Kreuzungsbereich kann durch den Nachweis eines atypischen Verlaufs erschüttert werden. Die bloße Möglichkeit eines atypischen Verlaufs reicht dafür nicht aus.

Biegt der Kraftfahrer aus einer bevorrechtigten Straße mit trichterförmig erweiterter Einmündung nach links ein, so erstreckt sich die Vorfahrt nicht nur auf das durch die Fluchtlinien der Fahrbahnen beider Straßen gebildete Einmündungsviereck, sondern umfasst die ganze bis zu den Endpunkten des Trichters erweiterte, bevorrechtigte FahrbahnBGH. Der Fahrer, der dem Verlauf einer nach links abknickenden Vorfahrtstraße nicht folgt, sondern geradeaus weiterfährt, hat in dem gesamten Kreuzungsbereich die Vorfahrt gegenüber dem von rechts kommenden Verkehr (BGH Urt. v. 09.03.1971 – VI ZR 137/69 –, VersR 1971, 568 = VRS 40, 328 [BGH 09.03.1971 – VI ZR 137/69] = VerkMitt. 1971 Nr. 51).

Weiterfahrt des Wartepflichtigen darf den Vorfahrtberechtigten nicht gefährden noch wesentlich behindern

Der Wartepflichtige darf seine Fahrt nicht fortsetzen, wenn er dadurch den Vorfahrtberechtigten zwingen würde, Richtung oder Geschwindigkeit unvermittelt zu ändern (vgl. Begr.). Jede Möglichkeit eines Zusammenstoßes muss ausgeschlossen sein; jedoch ist nicht mehr jegliche Art der Beeinträchtigung des Vorfahrtberechtigten untersagt. Eine unwesentliche Behinderung muss er hinnehmen. Ein unschwer ausführbares Ausweichen oder das Herabsetzen der Geschwindigkeit durch leichtes Bremsen ist ihm zuzumuten. Der Wartepflichtige muss erforderlichenfalls noch in der Kreuzung anhalten, um einen vorfahrtberechtigten Verkehrsteilnehmer vorbeizulassen, damit dieser nicht geschädigt oder gefährdet wird.

Die höchstrichterliche Rechtsprechung nimmt einen Anscheinsbeweis für eine Vorfahrtsverletzung des Wartepflichtigen an, wenn auf einer Kreuzung oder Einmündung zwei Kraftfahrzeuge zusammenstoßen (BGH Urt. v. 15.06.1982 – VI ZR 119/81 –, VRS 63, 252).

Schaltet der bevorrechtigte Kraftfahrer vor einer von rechts einmündenden, untergeordneten Straße den rechten Fahrtrichtungsanzeiger ein und verringert er die Fahrgeschwindigkeit, kann der Wartepflichtige i. d. R. darauf vertrauen, dass der Bevorrechtigte nach rechts abbiegen werde(OLG München, DAR 1998, 474). Der Vertrauensschutz fehlt, wenn in geringer Entfernung hinter der untergeordneten Straße weitere Straßen einmünden oder Einfahrten bestehen oder der Vorfahrtsberechtigte trotz eingeschaltetem Blinker mit unveränderter Geschwindigkeit weiterfährt. Hierauf muss der Wartepflichtige achten, da es andernfalls zu einer Mithaftung kommen kann (vgl. OLG Celle, DAR 2004, 390, OLG Hamm, NZV 2003, 414).

Hineintasten in die Kreuzung oder Einmündung bei Unübersichtlichkeit

Der Wartepflichtige, der vor der Schnittlinie der Fahrbahnen keinen Überblick über die Verkehrslage auf der bevorrechtigten Straße gewinnen kann, darf sich so weit in diese hineintasten, bis er Einblick erhält (s. a. AG Braunschweig SVR 2009, 67). Stellt er durch Einblickfest, dass er auf der bevorrechtigten Straße weiterfahren kann, muss dies zügig geschehen, um herannahenden Verkehr nicht zu gefährden oder zu behindern (§ 1 Abs. 2 StVOOLG Hamm Urt. v. 04.11.1993 – 6 U 122/93 –, NZV 1994, 2778; BGH NZV 1994, 184 [BGH 25.01.1994 – VI ZR 285/92]).

Die Wartepflicht setzt voraus, dass das bevorrechtigte Fahrzeug sichtbar ist, wenn der Wartepflichtige mit dem Einfahren beginnt (OLG Hamm NZV 1996, 69).

Kann der Wartepflichtige wegen der Straßenführung die auf der Vorfahrtstraße herannahenden, von einem vorausfahrenden Fahrzeug verdeckten Verkehrsteilnehmer nicht sehen, muss er mit dem Einbiegen in die bevorrechtigte Straße nach rechts warten, bis er ausreichende Sicht erlangt. Er kann sich nicht darauf verlassen, dass hinter einem die Sicht verdeckenden Fahrzeug kein Verkehrsteilnehmer zum Überholen ansetzt (BGH NZV 1996, 27 [BGH 26.09.1995 – VI ZR 151/94]). Der Wartepflichtige ist aber an einer Einmündung nicht gehalten, den Einbiegevorgang in einer den Anforderungen des § 8 Abs. 2 S. 3 StVO entsprechenden Weise durch zentimeterweises Vorfahren mit der Möglichkeit zum sofortigen Anhalten zu vollziehen, wenn er darauf vertrauen darf, ohne Gefährdung des noch nicht in sein Sichtfeld geratenen bevorrechtigten Verkehrs in die Vorfahrtstraße einzubiegen (OLG SaarbrückenUrt. v. 12.10.2010 – 4 U 110/10 –, SP 2011, 100).

Einbiegen des Wartepflichtigen nach rechts in die bevorrechtigte Straße

Der Wartepflichtige darf in die Vorfahrtstraße oder gleichrangige Straße nach rechts einbiegen, wenn dadurch die Weiterfahrt des entgegenkommenden Verkehrs auf der Vorfahrtstraße nicht gefährdet oder wesentlich behindert werden kann. Er darf davon ausgehen, dass er keinen Vorfahrtberechtigten behindern werde, wenn beim Beginn des Einbiegens sich nicht nur von links keine Fahrzeuge nähern, sondern auch die für ihn rechte Straßenseite frei ist und keine Anzeichen dafür sprechen, dass eines der sich auf der bevorrechtigten Straße von rechts nähernden Fahrzeuge die Fahrbahnseite wechseln werde.

Stößt der Wartepflichtige, der nach rechts in eine Vorfahrtstraße einbiegt, dabei auf der rechten Fahrbahnseite gegen einen von rechts kommenden, im Überholen begriffenen Verkehrsteilnehmer, fehlt ein Anscheinsbeweis für sein Verschulden (BGH Urt. v. 15.06.1982 – II ZR 119/81 –, DAR 1982, 126).

Verdeckt ein vorausfahrendes Fahrzeug die Sicht, muss er mit dem Einbiegen in die bevorrechtigte Straße nach rechts warten, bis er den Verkehrsraum ausreichend übersehen kann (BGH DAR 1996, 11).

Bestimmte Gründe können den Vorfahrtberechtigten veranlassen, mehr links zu fahren: Kinder am Straßenrand, Hindernisse (Fahrzeuge) am Fahrbahnrand. Die Vorfahrtregeln gelten nicht nur bei sich kreuzenden Fahrlinien, sondern auch dann, wenn diese einander berühren oder sich in bedrohlicher Weise nähern. Der Wartepflichtige muss erforderlichenfalls noch in der Kreuzung (Einmündung) anhalten. Befindet sich aber der Rechtseinbieger bereits in der nach rechts führenden Straße, wenn der andere Verkehrsteilnehmer in den Sichtbereich einfährt, liegt kein Vorfahrtfall, sondern ein Begegnungsfall vor, bei dem das Rechtsfahrgebot gilt.

Vertrauen auf Einhaltung der zulässigen Geschwindigkeit durch den Vorfahrtberechtigten

Der Vertrauensschutz zugunsten des Wartepflichtigen gilt nur bei atypischen groben Verkehrsverstößen des Vorfahrtberechtigten (OLG Stuttgart VRS 69, 304; BayObLG VRS 58, 150, OLG Frankfurt, NZV 1990, 472).

Wenn der Wartepflichtige die Vorfahrt des Vorfahrtberechtigten verletzt hat, ist nach den Regeln des Anscheinsbeweises von seiner Schuld auszugehen. Dieser Beweis kann nur durch nachgewiesene Tatsachen ausgeräumt werden, aus denen folgt, dass der Vorfahrtberechtigte auch bei größter Sorgfalt nicht gesehen werden konnte. Bei wesentlich überhöhter Geschwindigkeit ist die Erschütterung des Anscheinsbeweises denkbar (OLG Celle VersR 1973, 1147 [OLG Celle 15.03.1973 – 5 U 190/72] nimmt dies bei innerorts gefahrener Geschwindigkeit von 90 km/h an), weil dann nicht mehr angenommen werden kann, dass der aus der untergeordneten Straße Kommende den Vorfahrtberechtigten rechtzeitig hat sehen können. Vielfach wird in der Rechtsprechung die obere Grenze der Geschwindigkeit, mit der der Wartepflichtige bei dem Herannahen des Vorfahrtberechtigten auch innerhalb der Ortschaften, wenn auch jeweils unter Berücksichtigung der konkreten Umstände des Einzelfalls, rechnen muss, mit 70 km/h angenommen (KG VersR 1978, 872).

Die Mithaftung des Vorfahrtberechtigten, der die zulässige Höchstgeschwindigkeit um 30 % überschreitet und den Unfall bei Einhaltung der zulässigen Höchstgeschwindigkeit hätte vermeiden können, wird mit 25 % gewertet (LG Heilbronn VersR 2003, 1004 [LG Heilbronn 11.07.2002 – 2 O 2404/01 II]). Überschreitet der Vorfahrtsberechtigte die zulässige Höchstgeschwindigkeit um ca. 25–35 km/h, ist von einer Mithaftung in Höhe von 1/3 auszugehen (OLG KoblenzUrt. v. 18.07.2011 – 12 U 189/10 –, SP 2012, 64). Überschreitet der Vorfahrtberechtigte die zulässige Höchstgeschwindigkeit um mehr als 30 %, bremst darüber hinaus auch noch unsachgemäß und kollidiert mit einem alkoholisierten Wartepflichtigen, beträgt seine Mithaftungsquote 50 % (OLG Brandenburg, SP 2007, 243).

Vertrauen auf die Fahrtrichtungsanzeige des Vorfahrtberechtigten

Der Wartepflichtige darf grundsätzlich darauf vertrauen, dass der Vorfahrtberechtigte die durch Fahrtrichtungsanzeige angekündigte Fahrtrichtung auch nehmen werde (BGH VerkMitt. 1974 Nr. 89; KG Berlin DAR 1990, 142 = NZV 1990, 155).

Unter welchen Voraussetzungen der Wartepflichtige sich auf ein durch Blinksignal angekündigtes Abbiegen des Vorfahrtberechtigten verlassen darf, wird in der Rechtsprechung nicht einheitlich behandelt. So wird teilweise die Ansicht vertreten, dass ein Vertrauenstatbestand nur dann gegeben ist, wenn außer der Betätigung des Blinkers die Geschwindigkeit eindeutig herabgesetzt wird und durch Beginn des Abbiegens deutlich wird, dass eine Berührung der beiderseitigen Fahrlinien nicht in Betracht kommt. Danach darf der Wartepflichtige trotz eingeschalteten Blinkers des vorfahrtberechtigten Fahrzeuges im Zweifel nicht auf dessen Abbiegen vertrauen (OLG Hamm DAR 2003, 521; LG Münster VRS 72, 166; OLG Saarbrücken VM 1982, 40). Die Gegenmeinung lässt die Betätigung der rechten Blinkleuchte des vorfahrtberechtigten Fahrzeugs zur Begründung eines Vertrauenstatbestandes für den Wartepflichtigen im Zweifel genügen und verneint sie nur ausnahmsweise dann, wenn besondere Umstände vorliegen, die Anlass zu Zweifeln an der Abbiegeabsicht geben (BGH VM 1974, 67; KG NZV 1990, 155; OLG München DAR 1998, 474; LG Traunstein, Urt. v. 13.12.2004 Az. 3 O 3668/04).

Gerade im Hinblick auf den zunehmenden Massenverkehr sollte der erst genannten Ansicht gefolgt werden. § 8 verlangt eine gesteigerte Sorgfaltspflicht des Wartepflichtigen, der mit verkehrswidrigem Verhalten des Vorfahrtberechtigten rechnen muss (vgl. BGH NZV 1996, 27[BGH 26.09.1995 – VI ZR 151/94]).

Außerdem muss der Wartepflichtige damit rechnen, dass der Vorfahrtberechtigte möglicherweise die Kurve schneidet (OLG Frankfurt/M.NZV 1990, 472).

Betätigt der Vorfahrtberechtigte die Lichthupe, ist dies als Vorfahrtverzicht nur dann zu verstehen, wenn der Verzicht durch Anhalten verdeutlicht wird (OLG Koblenz NZV 1991, 428). Ein Verzicht auf die Vorfahrt kann daher nur dann angenommen werden, wenn der Vorfahrtberechtigte den Verzichtswillen in unmissverständlicher Weise zum Ausdruck bringt (LG Darmstadt, SP 2006, 308, AG Köln, Urt. v. 01.07.2010 – 262 C 156/09 –, SP 2011, 107).

Das Verkehrszeichen 205 (Vorfahrt gewähren) muss auch dann beachtet werden, wenn es auf einem privaten Firmengelände auf Anordnung der Straßenverkehrsbehörde vom Unternehmer aufgestellt worden ist.

Linksabbiegende Wartepflichtige und entgegenkommende Vorfahrtberechtigte

Sofern der linksabbiegende Wartepflichtige seine Fahrweise so einrichtet, dass er nicht in die Fahrbahn des rechtsabbiegenden Vorfahrtberechtigten gerät, ist es nicht zu beanstanden, wenn er weiterfährt, ehe dieser abgebogen ist.

Linksabbiegende Wartepflichtige und von rechts kommende Vorfahrtberechtigte

Kann der vor dem Linkseinbiegen in die Vorfahrtstraße an der Kreuzung Haltende beobachten, dass der sich von rechts nähernde Vorfahrtberechtigte weder blinkt noch sich zur Fahrbahnmitte einordnet, darf er darauf vertrauen, der andere werde über die Kreuzung geradeaus weiterfahren (OLG Celle VerkMitt. 1971 Nr. 88).

Verhalten des Wartepflichtigen bei Rotlicht einer Fußgängerfurt vor dem Vorfahrtberechtigten

Wird die vorfahrtberechtigte Straße durch eine Fußgängerfurt mit Lichtzeichen überquert und zeigt die Ampel Rot, darf der Wartepflichtige darauf vertrauen, dass der Vorfahrtberechtigte das Rotlicht nicht überfährt (BGH, NJW 1982, 1756 = VRS 63, 87;BayObLG VRS 64, 385).

Überqueren einer vorfahrtberechtigten Straße mit 2 Fahrbahnen

Stark befahrene Straßen mit zwei durch einen breiten Mittelstreifen getrennten Fahrbahnen dürfen von wartepflichtigen Kraftfahrern dadurch überquert werden, dass diese durch eine Lücke im Verkehrsstrom zunächst auf einen den Mittelstreifen unterbrechenden Überweg fahren, um dort eine Lücke im Verkehrsstrom der Gegenfahrbahn abzuwarten. Der Kraftfahrer verletzt die Vorfahrt in diesem Fall nicht, wenn beim Wiederanhalten auf dem Überweg das Heck seines Wagens so unwesentlich in den Verkehrsraum der Straße hineinragt, dass die Vorfahrtberechtigten ohne oder mit einer geringfügigen Ausweichbewegung daran vorbeifahren können.

Abwägung von Haftung des Wartepflichtigen und Mithaftung des Vorfahrtberechtigten

Bei einem Zusammenstoß auf einer durch Stoppschilder gesicherten Kreuzung kann den vorfahrtberechtigten Fahrer, auch wenn der Wartepflichtige fahrlässig gegen § 8 Abs. 1 Nr. 1 StVO verstoßen hat, eine Mithaftungsquote von 1/5 treffen, wenn er die Möglichkeit nicht ausräumt, die auf der bevorrechtigten Straße zulässige Höchstgeschwindigkeit von 50 km/h um etwa 15 km/h überschritten und auch sonst die bei Annäherung an eine Kreuzung zu beachtende Sorgfalt (z. B. Beobachtung des Querverkehrs) nicht voll beachtet zu haben (OLG Frankfurt VersR 1976, 69). Bei 20 %iger Erhöhung der Geschwindigkeit ist eine Mithaftung zu einem Drittel ausgesprochen worden (OLG Köln VersR 1978, 830). Bei Überschreitung der höchstzulässigen Geschwindigkeit um 40 % wurde eine 25 %ige Mithaftung zugemessen (KG VersR 1978, 872).

Stößt auf einer Kreuzung oder Einmündung das Fahrzeug eines Vorfahrtberechtigten mit dem eines Wartepflichtigen zusammen, spricht der erste Anschein für das Verschulden des Wartepflichtigen (BGH DAR 1982, 236 f.). Diese Beweislage kehrt sich um, wenn der Zusammenstoß nachts erfolgt ist und der Vorfahrtberechtigte ohne Beleuchtung fuhr (KG VRS 64, 172).

Nicht besonders geregelte Vorfahrt an schwer einsehbaren Kreuzungen

An schwer einsehbaren Kreuzungen ohne besonders geregelter Vorfahrt hat der Fahrer die Fahrgeschwindigkeit so zu vermindern, dass er Fahrzeuge, die von rechts kommen und deshalb bevorrechtigt sind, vorfahren lassen kann. Er verstößt andernfalls gegen § 3 Abs. 1 S. 4 StVO, weil er an einer unübersichtlichen Stelle zu schnell gefahren ist. Diese Vorschrift der »halben Vorfahrt« schützt auch den wartepflichtigen von links kommenden Verkehrsteilnehmer (BGH Urt. v. 21.06.1977 – VI ZR 97/76 –, VersR 1977, 917 = VRS 53, 256 [BGH 21.06.1977 – VI ZR 97/76]). Trotz Vorfahrt durch eine »Rechts-vor-links-Situation« ist das Hineintasten in einen unübersichtlichen Kreuzungsbereich vonnöten (§ 8 Abs. 2 S. 3 StVO). Trotz kurzer Fahrt, beispielsweise. drei Wagenlängen, auf einer Vorfahrtsstraße, kann einem die Vorfahrt noch nicht zustehen, so dass dann rechts vor links gilt. Bei unklaren Verkehrsgestaltungen darf der Vorfahrtberechtigte nicht darauf vertrauen, dass der Nichtvorfahrberechtigte seine Wartepflicht beachtet. (Das Prinzip der halben Vorfahrt). Dieses Prinzip gilt vor allem bei auf Dauergelblicht geschalteten Ampeln, welche jedem Fahrer eine erhöhte Sorgfaltspflicht zuweist. (AG BraunschweigUrt. v. 05.06.2007 – 12 C 2388/06– –, SVR 2009, 67).

Wer als Wartepflichtiger an eine unübersichtliche Kreuzung oder Einmündung so heranfährt, dass er der Wartepflicht nicht mehr genügen kann, verletzt den § 3 Abs. 1 StVO, bei Gefährdung oder Behinderung eines Vorfahrtberechtigten auch den § 8 Abs. 1 StVO.

Die Wartepflicht besteht jedoch nur gegenüber dem sichtbaren Verkehr (OLG Hamm NZV 1994, 277). Der Wartepflichtige darf darauf vertrauen, dass der bevorrechtigte Verkehr auf Sicht fährt. Stellt er fest, dass die Vorfahrtstraße nur für kurze Zeit frei ist, muss er bei Überquerung der Straße versuchen, die Räumzeit möglichst zu verringern (OLG Hamm Urt. v. 11.04.1994 – 13 U 228/93; OLG Köln Urt. v. 07.07.1995 – 19 U 252/94). Mit extrem hoher Geschwindigkeit des Vorfahrtberechtigten braucht er jedoch nicht zu rechnen (OLG Nürnberg r+s 1994, 134 = VRS 87, 22 = zfs 1994, 202).

Der Vorfahrtberechtigte muss bei Annäherung an eine nicht einsehbare Einmündung durch ausreichenden Abstand vom Fahrbahnrandeinem wartepflichtigen Fahrer das Hineintasten ermöglichen. Hineintasten bedeutet die Möglichkeit des Anhaltens auf der Stelle; diese Forderung kann schon bei einer Geschwindigkeit von 5–15 km/h verletzt sein (OLG KoblenzUrt. v. 11.07.1994 – 12 U 1116/93).

Vorfahrtregelung durch Verkehrszeichen

Zeichen, die die Vorfahrt gewähren

Mit den Zeichen 205, 206, 301 und 306 wird die Vorfahrtregel »rechts vor links« durch eine lokale Sonderregelung abgelöst. Die Zeichen 205 und 206 ordnen an, den Fahrzeugen der anderen Straße die Vorfahrt zu gewähren.

Münden mehrere mit negativen Zeichen versehene Straßen in eine mit positivem Zeichen versehene Straße ein, gilt im Verhältnis der untergeordneten Straßen zueinander die Vorfahrt rechts vor links, auch wenn in einer dieser untergeordneten Straßen statt des Wartegebotszeichens das Stoppschild einschließlich der Haltlinie (Zeichen 206 mit 294) angebracht ist (BGH NJW 1974, 950 = VRS 47, 84).

Das positive Vorfahrtzeichen 301 regelt die Vorfahrt nur an der nächsten Kreuzung oder Einmündung. Das Zeichen 306 gewährt die Vorfahrt bis zum nächsten Zeichen 205 »Vorfahrt gewähren!« oder 206 »Halt! Vorfahrt gewähren!« Das Zeichen 306 gewährt die Vorfahrt ohne Rücksicht darauf, ob es an jeder Kreuzung oder Einmündung wiederholt und ob in der anderen Straße negative Vorfahrtzeichen angebracht sind.

Ist eine Straße durch die Zeichen 301 und 306 als Vorfahrtstraße gekennzeichnet, sind die auf kreuzenden oder einmündenden Straßen herannahenden Verkehrsteilnehmer wartepflichtig, auch wenn auf ihrer Straße negative Vorfahrtzeichen fehlen.

Zur Klarstellung schreibt jedoch die Verwaltungsvorschrift den Behörden vor, an jeder Kreuzung und Einmündung (auch) das Zeichen 205 oder 206 anzubringen (VwV zu Zeichen 301 unter III und zu den Zeichen 306 und 307 unter II 2). Diese doppelte Beschilderung (s. a. VwV zu den Zeichen 205 und 206 bei VII 1) ist aus Sicherheitsgründen vorgesehen (BGH NJW 1977, 632 = VRS 52, 168 [BGH 21.12.1976 – VI ZR 257/75]).

Bundesstraßennummernschild Zeichen 401 und Europastraßennummernschild Zeichen 410 haben keine vorfahrtregelnde Bedeutung.

Bedeutung der weißen Haltelinie

I. d. R. ordnet beim Stoppzeichen (Zeichen 206) eine weiße Haltelinie (Zeichen 294) an, wo gehalten werden muss. Sie soll sich dort befinden, wo man bevorrechtigten Querverkehr übersehen kann. Ist dies nicht der Fall, darf sich der Wartepflichtige nach § 8 Abs. 2 S. 3 vorsichtig in die Kreuzung hineintasten, bis er den Querverkehr übersehen kann. Ein nochmaliges Halten an dieser Stelle ist nur erforderlich, wenn der bevorrechtigte Querverkehr es verlangt.

Vorfahrt oder Begegnung auf untergeordneten Straßen beiderseits einer Kreuzung

Die Begegnung von Kraftfahrzeugen auf derselben Straße unterliegt nicht der Vorfahrtregelung, auch wenn auf beiden Seiten einer kreuzenden Vorfahrtstraße Verkehrszeichen »Halt! Vorfahrt gewähren!« angebracht sind. Wer nach links auf die Vorfahrtstraße einbiegen will, muss daher die ihm von der anderen Seite der Straße entgegenkommenden Fahrzeuge vorbeifahren lassen.